Leseprobe aus "Kater Brummel"

 

 

 

Die extra lange Leseprobe:

 

Kater Brummel - Ein Katzenkrimi

 

Prolog

 

Durch eine Lücke im Zaun betrat er diesen geheimnisvoll anmutenden, in blaues Mond­licht getauchten Garten. Er sollte nicht hier sein, doch ihm war dieser verlockende Duft in die Nase geweht, der ihn unweigerlich anzog. Er reckte seinen Hals, schnupperte im milden Nachtwind, doch er konnte sich nicht erinnern, jemals etwas Vergleichbares gerochen zu haben. Fremd, seltsam und ungemein ver­führerisch. Die Verheißung eines Abenteuers lag in der Luft. Der Geruch schien von der Terrasse zu ihm herüber zu wehen. Von Neugier gepackt, schlich er darauf zu. Ein langer Gartenweg führte an Johannis­beer­büschen vorbei. Gemüse wuchs in Reih und Glied, als hätte jemand Spielzeugsoldaten in Stellung gebracht. Der silberne Vollmond ließ die schwarzen Schatten eines alten Birnbaumes, dessen Äste sich im Nachtwind wiegten, über die Beete huschen. Die überdachte Terrasse lag dunkel vor ihm. Dunkel wie das Geheimnis, das sich dort verbarg. Nur ein paar Schritte trennten ihn vom Ursprung dieses unwiderstehlichen Duftes. Er hielt kurz inne, lauschte, seine Augen spähten in tintige Schwärze. Als er in den Schatten des Birn­baums trat, weiteten sich seine Pupillen. Er registrierte die Silhouetten von Gartenmöbeln und einer Hollywoodschaukel. Nichts Besonderes. Doch woher kam dieser Duft? Er folgte seiner neugierigen Nase und betrat die Terrasse.
Der Schlag traf ihn völlig unvorbereitet und so heftig, dass er nach hinten flog und er sich im Gemüsebeet zwischen Kohlrabi und Möhrenkraut wiederfand. Obwohl seinen Augen die Dunkelheit nichts ausmachte, hatte er ihn nicht kommen sehen. Es schien ihm, als hätte sich ein Schatten aus der Finsternis gelöst. Der Schattenmann fiel ihn an wie eine rasende Bestie, kaum dass er die Terrasse betreten hatte. Jetzt lag er zwischen dem Gemüse und kam nicht dazu, sich zu wehren oder überhaupt zu begreifen, was mit ihm geschah. Der Schatten trat auf ihn ein, wo immer er ihn erwischte. Und die Tritte trafen ihn mit brachialer Gewalt. Seine Krallen gruben sich in die Erde. Den Halt, den er dort fand, hätte er nutzen können, um loszusprinten. Doch seine Beine versagten ihm den Dienst, als ein weiterer schwerer Tritt sein Rückgrat traf. Er wollte schreien, aber er brachte nur ein hustendes Röcheln zustande. Erst jetzt schmeckte er das Blut, das zwischen seinen Zähnen hervorquoll. Schmerz durch­wallte ihn, dass ihm heiß und kalt wurde. Er spürte, er würde gleich das Bewusstsein verlieren. Bis zu diesem Moment hatte er seinem Gegner auch nicht den kleinsten Kratzer zugefügt. Langsam schwanden ihm die Sinne. Das Letzte, was er sah, war ein seltsamer Gegenstand, der im fahlen Mondlicht kurz aufblitzte. Er musste wohl aus Eisen sein. Der Schatten hielt ihn in der erhobenen Hand. Ohnmächtig sah er zu, wie er auf seinen Kopf niedersauste. Unerbittlich senkte sich die grenzenlose Nacht über ihn, aus der es kein Erwachen gab. Seine Augen starrten leblos zu den knorrigen Ästen des alten Birnbaums hinauf. Der Nachtwind wehte Tannenduft vom nahen Wald herüber. Die Grillen, die während des Kampfes geschwiegen hatten, begannen nun wieder, ihr ewig gleiches zirpendes Lied zu singen.

*

Der Schattenmann stand im fahlen Mondlicht und begutachtete sein Werk. Bevor er den Fugenkratzer zu den anderen Gartengeräten zurücklegte, wischte er gewissenhaft das Blut ab. Er schlich um die Hausecke, nahm alte Zeitungen aus dem Altpapierkübel und ging damit zu seinem Auto, das in der Einfahrt parkte. Er öffnete leise den Kofferraum und verteilte darin sorgfältig die Zeitungen. Immer wieder sah er zum Haus und behielt argwöhnisch die Fenster im Auge. 
Doch die kleine Stadt am Rand des Harzes lag im Tiefschlaf. Schon vor Stunden hatte die Nacht Tal für Tal erobert, war über sanfte Hügel und schroffe Bergmassive geglitten und hatte ihre schwarze Decke über die Häuser gebreitet. Alles war ruhig. Umso lauter erschienen die Geräusche der Nacht, so leise sie auch sein mochten. Sie machten die Stille lebendig: das Rauschen des Windes in den Zweigen; das Zirpen der Grillen; Wasser­tropfen, die in steter Folge in eine Regentonne platschten; die einsamen Rufe einer Eule im nahen Wald. Irgendwo bellte ein Hund. 
Die dunkle Gestalt blickte sich um. Keine Menschenseele war zu sehen. Behutsam bewegte sich der Schatten wieder in den Garten, hob dieses blutige Etwas hoch und trug es zum Auto. Er schloss den Kofferraum genauso vorsichtig, wie er ihn geöffnet hatte. Dann ging er abermals in den Garten. Er kratzte Erde aus einem angrenzenden Blumenbeet und verdeckte damit den Blutfleck. Die Erde würde das Blut aufsaugen und den verbleibenden Fleck dunkel färben. Um die Blutspritzer an dem umstehenden Grünzeug würde er sich morgen kümmern und beizeiten die Sprinkler­anlage anstellen, die dann den Rest erledigen sollte. Zufrieden mit sich ging der Schatten ins Haus. Leise. Er wollte ja niemanden wecken.

*

Der Wind streifte über die Felder und wie im Takt wiegten sich die Ähren auf den Halmen. Die Feldflur wurde hier und da durch kleine Wäldchen unterbrochen, die wie grüne Inseln in einem goldenen Meer aussahen. Von Weitem leuchteten die grellgelben Rapsfelder in der Sonne und ein honigsüßer Duft lag drückend über dem Land. Die schmale Straße, die sich durch die Landschaft schlängelte, wurde in unregel­mäßigen Abständen von Obstbäumen gesäumt. Der alte Ascona rumpelte über den löchrigen Asphalt. Es schien, als sei es das einzige Auto, das zu dieser Stunde unterwegs war. Eigentlich war es auch viel zu heiß zum Fahren. Das rote Warnlicht der Benzinanzeige blinkte auf. Der Mann am Steuer registrierte es gleichgültig und hing weiter seinen Grübeleien nach. Die vergangene Nacht geisterte durch seine Gedanken. Sein Blick schweifte über die Landschaft, aber er hatte kein Auge für ihre Schönheit. Nach einigen Kilometern erreichte er eine kleine Anhöhe. Von dort oben konnte er sich zu beiden Seiten der Straße versichern, dass er wirklich allein war. Er trat auf die Bremse, hielt den Wagen an und stieg aus. Ein Luftzug streifte ihn und er bemerkte, dass sein Hemd schweißnass auf seiner Haut klebte. Er ging um das Auto herum, öffnete den Koffer­raum und sah hinein. Blutgeruch schlug ihm entgegen. Angewidert wandte er sich kurz ab. Dann hob er den toten Kater aus dem mit alten Zeitungen ausgelegten Kofferraum. Er spürte die Wärme des Tieres, das den ganzen Vormittag in der prallen Sonne auf seinen Abtransport gewartet hatte. Sein struppig aussehendes, blutverkrustetes Fell fühlte sich unerwartet weich an. Er trug den Kater ein paar Meter zum Feldrand, wo er ihn ins Gras warf wie einen alten Müllsack. Wenn jemand den Kater am Straßenrand fand, sah es wie ein Unfall aus.
Es sieht immer wie ein Unfall aus, dachte er zufrieden, als er wieder in den Wagen stieg.

 

 

1. Kapitel

 

An einem sommerwarmen Nachmittag lag ich faul auf der Wiese im Park. Ab und zu zupfte ein Windhauch an meinen Schnurr­haaren. Mein schwarzes Fell fing die Sonnenstrahlen ein. Es war wohlig warm. Der Flieder blühte und sein Duft erfüllte die Luft. Zufrieden mit der Welt schnurrte ich vor mich hin. Ich träumte von der vergangenen Nacht und von den goldenen Augen meines Kavaliers. Alfred, ein stattlicher junger Kater, noch so herrlich unbeholfen in seinen Liebes­bekundungen, hatte mir die ganze Nacht den Hof gemacht. Es war das erste Mal, dass er auf Brautschau war. Normalerweise stehe ich ja mehr auf erfahrene Kater, weil sie wissen, wie sie die Dame ihres Herzens verwöhnen müssen, um ans Ziel zu kommen. Aber dieser Alfred ist wirklich ein Süßer! Zuerst brachte er mir eine Spitzmaus. Igitt! Spitzmäuse sind das Letzte! Das hab ich ihm natürlich auch gesagt. Also, ich bin ja nicht zickig, aber eine Spitzmaus! Mal ehrlich, das muss es echt nicht sein! Nachdem er sich tausendmal entschuldigt hatte, brachte er mir eine Feldmaus. Lebend! Als ob man in einer rauschenden Liebesnacht nichts anderes zu tun hätte, als Spielchen zu spielen. Hab sie laufen lassen. Ein kurzes Funkeln in seinen Augen verriet die Jagdlust, die beim Anblick der glücklich davonflitzen­den Maus für die Länge eines Wimpernschlags seine Gedanken beherrschte. Doch eine klitzekleine Bewegung meiner Schnurr­haare genügte, um wieder seine ungeteilte Aufmerksamkeit zu genießen. Ein Blick seiner goldenen Augen jagte mir wohlige Schauer über den Rücken. Dann gab er sich wirklich Mühe, strich mir um den Bart, hauchte mir Zärtlichkeiten ins Ohr, bevor er mein Ohr dann ganz liebevoll abschlabberte. Es war herrlich, so umschmeichelt zu werden. Eine winzige Erschütterung riss mich aus meinem Tagtraum. Ich öffnete einen Spaltbreit die Augen und fixierte die Umgebung. Alles ruhig. Moment mal, da war doch was.
Meine wilde Freundin Mia, eine grau getigerte Streunerin, kam den Parkweg entlang getrabt. Ich war erstaunt, sie hier zu sehen. Mia hatte grade erst Junge bekommen und verließ nur selten ihr Versteck. Dass sie besorgt aussah, konnte man schon von Weitem sehen.
»Mia …«, rief ich ihr verwundert zu und schlenderte ihr freudig mit hoch erhobenem Schwanz entgegen. Wir trafen uns auf dem breiten Kiesweg, der längs durch den ganzen Park führte und auf dem angrenzenden Spielplatz endete.
»Cleo, da bist du ja«, sagte sie aufgeregt und stupste mit ihrer Nase gegen meine.
»Ich habe gehofft, dich hier zu treffen.« Wir beschnupperten uns kurz.
»Was ist denn los?«, fragte ich. Sie war so außer Atem, dass sie erst tief Luft holen musste, bevor sie ein Wort herausbrachte.
»Seppel ist weg! Verschwunden! Einfach weg!«
»Seppel ist ein Streuner, so wie du und ein Macho obendrein. Was erwartest du?«
Seppel gehörte nicht grade zu meinem engsten Freundeskreis. Er hatte mir im letzten Jahr mal nachgestellt, aber seine penetranten Macho­sprüche und sein ganzes Gehabe waren einfach nicht mein Ding. Ich hatte echt zu tun, diesen aufdringlichen Kerl loszuwerden. Seither bin ich ihm lieber aus dem Weg gegangen. Aber, wie man so schön sagt, der Geschmack ist ja verschieden. Und wie es aussah, schien er Mia viel zu bedeuten.
»Ich weiß, Cleo, du hältst nicht viel von Seppel. Er kann ziemlich hartnäckig sein, wenn er verliebt ist. Aber glaube mir, er ist kein schlechter Vater.« Sie machte eine nachdenkliche Pause, als suchte sie die richtigen Worte.
»Weißt du, ich habe schon zum dritten Mal Junge von ihm. Und immer wenn ich Junge habe, kommt er regelmäßig jede Nacht und bringt mir Mäuse, damit ich nicht selbst jagen muss und mehr Zeit für unsere Kleinen habe. Das ist ihm schon immer sehr wichtig. Aber letzte Nacht ist er nicht gekommen. Ich hab bis zum Morgen auf ihn gewartet, aber er ist einfach nicht aufgetaucht. Dann bin ich los und habe überall nach ihm gesucht; war an allen Plätzen, wo er sich sonst so rumtreibt. Nichts! Jede Katze, die ich getroffen habe, habe ich gefragt, aber niemand hat ihn seit gestern Abend gesehen.«
»Tut mir leid, Mia, ich hab ihn auch nicht gesehen. Aber ich würde mir jetzt keine großen Sorgen machen. Bestimmt taucht er wieder auf.« Ich blinzelte ihr aufmunternd zu, aber ich spürte, sie hätte lieber gehört, dass ihren Seppel irgendjemand beobachtet hätte, wie er vielleicht das Revier wechselte, oder sogar wie er einer anderen Schönen nachstellte. Dann wüsste sie wenigstens, dass es ihm gut ging. Doch damit konnte ich ihr nicht dienen. Mia machte sich echt Sorgen.
»Irgendjemand muss ihn doch gesehen haben. Man verschwindet doch nicht einfach so spurlos. Bitte, Cleo, hilf mir, Seppel zu finden. Du, die ‚Miss Marple‘ unter den Katzen, kannst ihn doch aufspüren.«
Da hatte sie meinen Schwachpunkt erwischt. Vor etwa drei Jahren, als ich neu in diese Gegend kam, machten mir so ein paar Blödmänner das Leben schwer. Carlos und Santana. Brüder. Wo der eine war, da war auch der andere. Und eins kann ich sagen, diesen Santana hätte man lieber Satan nennen sollen. Ich hatte vorher noch nie so einen riesigen Kater gesehen. Und die beiden waren dauernd auf Ärger aus, haben sich als Chef im Revier aufgespielt und wollten sich ständig mit mir prügeln. Ich war nur noch auf der Flucht. Irgendwann traute ich mich gar nicht mehr raus und wäre fast zum „Drinni“ mutiert. Als mein Frauchen mich deshalb zum Tierarzt schleppen wollte, hatte ich die Faxen dicke. Ich überlegte, in welcher Disziplin ich diese Blödmänner schlagen konnte. Und bei dem Gedanken an die Blödmänner machte es plötzlich klick. Die waren blöd! Die hatten so viel Grips wie ein Sack Kartoffeln! Ich dagegen hab Köpfchen. Das war die Waffe, mit der ich sie schlagen konnte. Also dachte ich mir ein paar Räuberpistolen aus, um mir diese unliebsamen Gesellen vom Hals zu halten. Es war leicht, die Geschichten unters Katzenvolk zu streuen. Und was soll ich sagen, es hat funktioniert. Die Abenteuer der Detektivkatze, die ich mir ausgedacht hatte, sprachen sich schnell herum. Die Blödmänner begegneten mir nun mit Respekt und ließen mich fortan in Ruhe. Doch die kleine Notlüge entwickelte ein Eigenleben, mit dem ich nicht gerechnet hatte. Ich war plötzlich das Gesprächsthema Nummer eins und meine Stellung in der Katzen­gemeinde hatte sich auf einen Schlag völlig verändert. Ich war ein anerkanntes Mitglied geworden und jeder wollte plötzlich mit mir befreundet sein. Der Nachteil war, alle wollten mehr Geschichten hören. Doch wenn man sich in Schweigen hüllt, stachelt das die Fantasie der anderen noch mehr an. Außerdem läuft man nicht Gefahr, sich in den eigenen Lügen­geschichten zu verstricken und am Ende aufzufliegen. Von da an war ich also die Detektivkatze, die jeden Fall spielend lösen konnte. Es gab in Katzenkreisen, zumindest in unserem Revier, keine Fälle, die eines Detektivs bedurft hätten. Ich hatte also meine Ruhe. Bis heute. Wenn jetzt rauskommen sollte, dass ich jahrelang alle an der Nase herumgeführt habe, dann war ich in der gesamten Katzengemeinde so was von unten durch, dass ich mich auf Lebenszeit nicht mehr draußen blicken lassen konnte. Ich durfte auf keinen Fall auffliegen. Mia hatte weiter auf mich eingeredet, während ich meinen Gedanken nachhing. Als sie dann »Bitte, Cleo, tu‘s für mich« sagte und mich dabei so traurig und Hilfe suchend ansah, stand mein Entschluss fest. Ich musste eine richtige Detektivkatze werden! Was hat ein Detektiv schon, was ich nicht hatte? Alles, was ich brauchte, war mein Verstand und mein sechster Sinn. Außerdem hatte ich zu Hause in dem viereckigen Kasten, wo abends immer diese bewegten Bilder flimmern, schon den einen oder anderen Krimi gesehen. Vor allem im Winter, wenn es zu kalt und ungemütlich war, um draußen herumzustromern. Da mein Frauchen Krimis mag und sie sich fast jeden Abend einen davon zu Gemüte führt, kannte ich mich schon aus. Ich wusste, was an Tatorten zu tun war, wie man Spuren auswertet und den Täter überführt. Aber im Gegensatz zu ihr konnte ich den Täter förmlich riechen. Natürlich kamen auch aus unserem Kasten nur Bilder und keine Gerüche, aber wenn einer log oder Angst hatte, kribbelte es in meiner Nase. Bis meinem Frauchen endlich ein Licht aufging, wer der Täter war, lag ich schon längst wieder entspannt auf meinem Lieblingsplatz ganz oben auf dem Kratzbaum. Und im wahren Leben würde ich noch mehr Hinweise kriegen, denn dann konnte ich es tatsächlich riechen, wenn einer log. Ich glaube, das liegt daran, dass derjenige dann ganz unmerklich anfängt zu schwitzen. Irgendwie würde ich das also schon hinkriegen, eine echte Detektivkatze zu werden. Im Grunde genommen ist die Detektivarbeit ja auch nichts anderes als ein Katz-und-Maus-Spiel.
»Also gut. Ich werde sehen, was ich für dich tun kann«, sagte ich. Dankbar versuchte Mia, mir zuzulächeln, was ihr nur halbwegs gelang.
»Ich muss wieder zu meinen Kleinen, kann sie noch nicht so lange allein lassen.« Mit einem Nasenstupser verabschiedete sie sich. Ich sah ihr noch eine ganze Weile nach, wie sie über die Wiese eilte und hinter den Büschen verschwand. Ein mulmiges Gefühl machte sich in meinem Magen breit. Hatte ich ihr zu viel versprochen? Ich hatte keine Ahnung, wie ich Seppel finden sollte. Oder war dieser seltsame Druck, der von einer Sekunde zur anderen auf meiner Seele lastete und in meinen Eingeweiden wühlte, einfach nur Hunger? Ich beschloss, erst mal nach Hause zu gehen.

Ich schlenderte durch den Park, überquerte die Straße und setzte mich hinter die große Eiche. Hier stank es zwar übelst nach Hund – es war der Lieblingsbaum von dem blöden Kläffer, der hier in dem Haus an der großen Eiche wohnte – aber der Schatten des Pissbaums bot mir doch erst mal Sicherheit. Ich überlegte kurz, ob ich den Umweg durch die Gärten machen sollte. Doch die Luft schien rein zu sein – bis auf den Kläffergestank – und der Hunger trieb mich nach Hause. Also nahm ich den kürzeren Weg. Die Schatten wurden schon länger und bald würde die Sonne hinter den Dächern verschwinden. Ich legte einen Schritt zu. Der Gedanke an ein leckeres Abendessen und an das bevorstehende Stelldichein mit meinem Alfred beflügelte mich regelrecht. Als ich durch die Katzenklappe unseren Flur betrat und diesen herrlichen Hühnersuppenduft wahrnahm, war die Suche nach Seppel erst mal vergessen. In der Küche stand mein Frauchen am Herd. Sie war mit Abstand der liebste und hübscheste Langbeiner, den ich je gesehen hatte.

Ich kann mich noch genau daran erinnern, wie ich hierherkam. Das Licht der Welt erblickte ich auf einem Bauernhof, ziemlich weit weg von hier. Aber trotzdem waren wir keine richtigen Bauernkatzen. Bauernkatzen kommen im Stall zur Welt oder irgendwo draußen. Aber ich bin im Haus geboren. Ich war ein Wunsch­kätzchen. Meine Geschwister auch. Die Bäuerin, ich nenne diesen Langbeiner jetzt mal so, weil ich mich gar nicht mehr an ihren Namen erinnern kann, hatte für meine Mama extra eine Wurfkiste mit einer weichen Decke drin in einen Schrank gestellt, damit Mama dort ihre Ruhe hat, wenn wir kommen. Und das Erste, an das ich mich erinnern kann, als ich meine Augen geöffnet habe, war das freundliche Gesicht dieser Bäuerin, deren sanfte Stimme ich zu der Zeit schon kannte. Habe ich schon erwähnt, dass ich eine Hauskatze bin? Deshalb durfte ich mit meinen Geschwistern im ganzen Haus herumtollen. Aber am liebsten waren wir bei der Bäuerin in der Küche. Dort roch es immer so anheimelnd nach leckerem Essen, nach Fleischbällchen, Milch und anderen leckeren Sachen. Und als wir etwas größer waren, fiel auch öfters mal was für uns runter. Dabei achtete die Bäuerin darauf, dass keiner von uns zu kurz kam und alle ihren Teil abbekamen. Dafür war ich ihr besonders dankbar, denn ich war die Kleinste. Und meine größeren Brüder waren echte Rüpel, das steht mal fest. Als ich klein war, dachte ich, Hauskatzen dürften nur im Haus sein. Aber wenn das Wetter schön war und die Sonne schien, wurden wir auch in den Garten gelassen, wenn die Familie auf der Terrasse beim Kaffeetrinken versammelt war. Das war toll. Es roch da ganz anders, irgendwie nach Freiheit. Ich weiß nicht, wie ich beschreiben soll, wie Freiheit riecht. Vielleicht nach Gras? Nach Bäumen? Sogar den Wind kann man riechen. Oder kann man Freiheit mit dem Geschmack einer Maus vergleichen? Auf jeden Fall war es schön, durchs Gras zu laufen oder ein Gestrüpp zu erkunden, in dem schon ein paar Geschwister herumkletterten. Oder einfach nur auf der Wiese zu liegen und sich die Sonnenstrahlen auf den Bauch scheinen zu lassen. Das mache ich auch heute noch gern. Wir hatten eine unbe­schwerte Kindheit, meine Geschwister und ich. Eines Tages kam ein sehr netter weiblicher Langbeiner zu Besuch, hat sich zu uns ins Gras gesetzt und mit uns gespielt. Sie war jünger als die Bäuerin, vielleicht Mitte oder Ende zwanzig und der schönste Langbeiner, den ich je gesehen hatte. Ihr schulterlanges Haar glänzte wie Gold in der Sonne und ihre grünen Augen waren denen einer Katze nicht unähnlich. Auch ihr Gang war katzenhaft geschmeidig. Sie hat sich richtig Zeit dafür genommen, mit uns zu spielen. Das hat mir gefallen. Dabei redete sie mit so sanfter Stimme mit mir, dass ich gleich zu schnurren anfing. Ich kann mich erinnern, dass ich mit ihr gespielt habe, bis ich völlig k. o. war. Und dann bin ich wohl auf ihrem Schoss eingeschlafen. So halbwegs auf­gewacht bin ich dann auf ihrem Arm, als sie gesagt hat: »Die nehme ich«, und der Bäuerin ein paar Papierschnipsel gegeben hat. Richtig aufgewacht bin ich dann, wie sie mich in einen Kasten gesperrt und zu einer dieser stinkenden großen Blech­büchsen getragen hat. In der Blechbüchse waren komische Sessel eingebaut. Auf einen davon hat sie die Kiste gestellt, in der ich gefangen war. Als sie die Tür zumachte, habe ich meine Mama und meine Geschwister zum letzten Mal gesehen. Das traurige Gesicht meiner Mama werde ich niemals vergessen. Dann setzte sich die nette Dame neben mich. Aber war sie wirklich so nett? Immerhin hatte sie mich in den Kasten gesperrt und in dieses Blechdings verfrachtet. Jetzt machte sie neben mir irgendwas. Ich konnte es nicht genau erkennen und ich wollte es auch gar nicht, denn plötzlich wurde es total laut. Alles dröhnte und vibrierte. Und die Bäume draußen bewegten sich am Fenster vorbei. Immer schneller. Ich weinte ganz laut, wollte zu meiner Mama. Sie sollte kommen und mich holen. Aber sie kam nicht. Vielleicht sollte ich mich besser tot stellen? Ich drückte mein Gesicht in das Kissen, das in der Kiste lag, und machte mich ganz klein. Dann merkte ich, wie mir schlecht wurde. In Wellen schwappte Übelkeit durch meinen Körper. Ich hatte mich so aufgeregt, dass ich mich übergeben musste. Aber danach war es auch nicht besser, im Gegenteil. Jetzt musste ich auch noch aufpassen, dass ich in den Kurven nicht in das Ausgewürgte kullerte. Irgendwann wurden die Bäume, die am Fenster vorbeizogen, langsamer. Und dann blieben sie ganz stehen. Es wurde still und vibrierte auch nicht mehr. Die junge Frau nahm den Kasten und trug ihn in ein fremdes Haus. Fremd. Alles. Andere Räume mit anderen Sachen drin, fremder Geruch, keine Geschwister und vor allem: keine Mama! Sie nahm mich aus dem Kasten und trug mich wieder auf dem Arm. Jetzt war sie so nett wie vorhin, bevor sie mich entführt hatte. Was soll man denn davon halten? Sie sah mich ganz lieb an, kraulte meinen Bauch und fragte: »Und wie nennen wir dich jetzt? Also, dein schwarzes Fell erinnert mich an Cleopatra, die hatte auch schwarze Haare. Sie war eine Königin. Und Katzen sind ja auch majestätisch, zumindest tut ihr immer so. Also nenne ich dich Cleopatra, oder einfach Cleo? Was sagst du dazu?« Ich schmiegte mich in ihren Arm und leckte ihre Hand, die mich immer noch liebkoste. Von da an hieß ich Cleo und ich hatte bei diesem hübschen Langbeiner ein bemerkenswert schönes Katzenleben.

Als ich in die Küche kam, begrüßte mich mein Frauchen, sie heißt übrigens Sarina.
»Hallo, meine Süße! Na, hast du Hunger? Sieh mal, Cleo, was ich Feines für dich habe!«
Sie tätschelte meinen Kopf und kraulte mich dann unterm Kinn. Hmmm …, das war zum Niederknien schön. Mein Kopf folgte ihrer Hand, damit sie schön lange weiterkraulte. Ich schnurrte, wie ein kleiner Motor, bis sie sich wieder ihren Töpfen zuwandte. Ich inspizierte meinen Fressnapf. Es gab „Bashe“, mein Lieblingsfresschen, und daneben hatte sie mir noch ein Schälchen mit Hühnerbrühe gestellt. Ich liebe Hühnerbrühe.

 

2. Kapitel

 

Nach dem Abendessen ging ich ins Bad, sprang auf die Toilette und von dort in das offene Klofenster. Das war mein üblicher Weg, wenn ich nach hinten, zum Garten hinauswollte, falls nicht grade die Terrassentür offen stand. Da mein Frauchen der liebste Langbeiner ist, den man sich vorstellen kann, hat sie mir draußen einen kleinen Gartentisch unter das Klofenster gestellt, damit ich besser rein und raus kann. Obwohl die Höhe von einem Meter fünfzig, in der sich das Klofenster befindet, kein wirkliches Problem darstellt.
Die Sonne war inzwischen unter­gegangen. Ein auffrischender Wind rauschte in den Baumwipfeln und trieb Wolkenfetzen vor sich her. Ich unternahm einen Kontrollgang durch unseren Garten, bevor ich mich auf die Terrasse zurückzog, die windgeschützt in einer Ecke zwischen Haus und angebauter Garage lag. Ich putzte mich ausgiebig. Einerseits natürlich, um gepflegt auszusehen und Eindruck zu machen, andererseits aber auch, um mich abzulenken. Bei dem Gedanken, dass Alfred gleich hier auftauchen würde, sprang mein Herz wie wild vor Freude. Ich dachte schon, man könnte das laute Klopfen hören. Am liebsten wollte ich mich rollen und winden, mich geschmeidig auf dem Terrassenboden rekeln, aber ich zwang mich, Ruhe zu bewahren. Obwohl meine Sehnsucht nach Alfred immer größer wurde, wollte ich ihm noch eine Weile die Kühle, Unnahbare vorspielen, um dann irgendwann der süßen Verlockung nachzugeben und mit ihm ganz eins zu sein.

Bloß nicht so viel an Alfred denken, ermahnte ich mich, sonst würde ich doch noch schwach werden. Ich konzen­trierte mich ganz auf meine Abendtoilette. Zuerst leckte ich meine zierlichen Vorder­pfoten, außen und innen. Ich streckte die Krallen heraus und beknabberte sie mit großer Akribie. Dann widmete ich mich den kleinen Fellbüscheln zwischen meinen Pfotenballen und war mit meinen Pfoten erst zufrieden, als ich mir sicher war, dass das Weiß meiner Zehenspitzen schon von Weitem leuchtete. Dann leckte ich den hübschen weißen Fleck auf meiner Brust und auf meinem Bauch mit der gleichen Sorgfalt. Ich leckte über meine schlanken schwarzen Flanken. Mein schwarzes Fell war so dezent von Rot durchsetzt, dass man das Rot-Melierte kaum wahrnahm. Die meisten hielten mich einfach für eine schwarze Katze. Nur mein linkes Hinterbein war rot. Schwarz, rot und weiß, das waren meine Farben. Ich hörte mein Frauchen mal zu einem befreundeten Langbeiner sagen, dass diese Farben bei einer weiblichen Katze nur sehr selten vorkommen und dass man Katzen wie mich daher als Glückskatzen bezeichnet. Das gefiel mir. Seither bin ich jedes Mal ein kleines bisschen stolz, wenn ich mein kunterbuntes Durcheinander putze. In Gedanken versunken widmete ich mich ausgiebig meinem schwarz-roten buschigen Schwanz, der so gar nicht zu einer Hauskatze passte. Als ich damit fertig war, streckte ich mein rechtes Hinterbein vor und putzte es, dann das linke – das rote. Dann befeuchtete ich meine rechte Vorderpfote und wischte mir damit mein Gesicht sauber. Nachdem ich das etliche Male wiederholt hatte, rieb ich mir mit der Pfote von außen über die Ohren. Dann wurde noch das Ohrinnere sorgfältig ausgerieben und am Ende noch mal die Pfoten geputzt. Fertig! Ich sprang auf die Gartenbank. Geschniegelt und gebügelt saß ich da und sah mich um.

Die wilden Wolken hatten sich verzogen und einem grandiosen Sternenhimmel Platz gemacht, die richtige Kulisse für eine Liebesnacht. Aber Alfred ließ auf sich warten. Stunde um Stunde hockte ich auf der Terrasse. Ein Igel suchte auf der Wiese nach Schnecken und Würmern. Ich wartete. Ein Nachtfalter flatterte an meiner Nase vorbei. Ich schlug mit der Pfote nach ihm, erwischte ihn aber nicht. Der Nachtwind wehte ihn über die Hecke in den Nachbargarten, wo seine Kollegen bereits um eine Laterne kreisten. Irgendwann raschelte es unter den Sträuchern, bestimmt eine Maus. Ich könnte ja mal nachsehen, aber dann müsste ich mir wieder die Pfoten putzen und darauf hatte ich gar keine Lust. Was, wenn Alfred grade dann auftauchte? Ich wartete weiter. Aus einem Maul­wurfs­hügel in der Nähe flogen in schneller Folge kleine Erdklumpen. Obwohl es mitten in der Nacht war, schien der Besitzer hart zu arbeiten. Ich strafte ihn mit Missachtung, denn ich hatte bereits die Bekanntschaft mit diesen kleinen schwarzen Wichten gemacht. Schon öfter schleuderten sie mir Dreck ins Gesicht. Und das konnte ich überhaupt nicht leiden. Wenn man dann allen Widrigkeiten zum Trotz einen von denen erwischte, dann ließ er sich noch nicht mal genüsslich verspeisen, weil Maulwürfe einfach widerlich schmecken. Hatte Alfred vergessen, dass wir hier verabredet waren? Ich sah zu den Sternen hinauf. Einer blinkte. Vom Wald her hörte ich ein Käuzchen rufen. Der Rest der Welt schien zu schlafen. Alfred kam nicht.

 Enttäuscht musste ich mir eingestehen, dass das Stelldichein mangels Kavalier wohl ausgefallen war. Aber verstehen konnte ich es nicht. Gestern war es ein Fest der Liebe und heute kam er nicht? Das konnte nicht sein. Das Gespräch mit Mia fiel mir wieder ein. Erst war Seppel weg und jetzt Alfred? Mein sechster Sinn meldete sich. Zwei verschwundene Kater! Irgendetwas sagte mir, dass das kein Zufall war.
Traurig und enttäuscht schlich ich wieder ins Haus. Zu allem Ärger hatte Frauchen auch noch die Schlafzimmertür geschlossen. Mist! Ich tapste also in die Küche, schnupperte an meinem leeren Fressnapf und sprang dann auf die gepolsterte Eckbank. Hier rollte ich mich ein, legte den Schwanz um meine kalten Pfoten und versuchte einzuschlafen. Irgendwann kam ich zu mir: Ich schlich durch einen Garten, der in gespenstisch blaues Mondlicht getaucht war. Unheil lag drohend über diesem Ort, das spürte ich. Und doch kam mir der Garten bekannt vor. War ich hier schon mal? Bevor ich noch weiter darüber nachdenken konnte, sagte mir mein Verstand, dass ich hier besser verschwinden sollte. Doch wie von Geisterhand gezogen, trieb es mich weiter. Das war keine Neugier, obwohl ich gestehen muss, dass ich normalerweise furchtbar neugierig bin, es war wie ein Zwang. Vorsichtig und so lautlos wie möglich schlich ich den Gartenweg entlang. Da war ein Raunen dicht neben mir, ein Flüstern weiter weg. Unverständlich. Böse. Die Bäume und Sträucher um mich herum schienen lebendig zu sein. Ihre dämonischen Schatten schnappten nach mir wie fleischfressende Pflanzen nach einer Fliege. Auf einem Weg zwischen den Gemüsebeeten sah ich eine kleine Pfütze, die karmesinrot glänzte. In dem blauen Hexenlicht, das den Garten spärlich erhellte, war das ein seltsamer Anblick. Ich ging darauf zu und tauchte die Pfote hinein. Es war Blut. Erst jetzt fiel mir auf, dass das Unkraut, das den Weg säumte, und das Gemüse in den Beeten über und über mit Blut bespritzt waren. Auch auf den Baumstämmen glänzten karmesinrote Spritzer. Ich sollte hier schleunigst verschwinden. Ich nahm die Beine in die Hand und rannte wie ein Champion auf der Zielgeraden. Doch so schnell ich auch lief, der Weg vor mir schien immer länger zu werden. Dann vernahm ich ein Knacken, als wenn jemand auf einen Ast tritt, irgendwo hinter mir. Da, schon wieder! Waren das Schritte? Das Geräusch schien näher zu kommen. Oder täuschte ich mich und mein überlasteter Verstand spielte mir einen Streich? Ich blieb stehen, hielt den Atem an und lauschte in die finstere Stille. Ein eisiger Windhauch streifte meinen Nacken. Panisch hastete ich weiter. Ich bog von dem nie endenden Weg ab, um hinter Johannis­beer­sträuchern Deckung zu finden. Doch wie vom Donner gerührt blieb ich stehen. Ein gesichts­loser Hüne stand auf einmal vor mir, ein wahres Osterinsel-Standbild von einem Lang­beiner. In einer Hand hielt er den leblosen Alfred an seinem Nackenfell gepackt. Meinen Alfred! In der anderen Hand hielt er einen seltsamen Gegenstand, der im fahlen Mondlicht kurz aufblitzte. Ich wollte gar nicht wissen, was das für ein Ding war. Ich kann nicht sagen, wie lange ich dort stand. Der Anblick brannte sich in meine Gedanken. Mein toter Alfred baumelte an der Hand des Monsters und starrte mich aus leeren Augen an. Blut quoll aus seinem Maul und bildete eine riesige Pfütze, in der der gesichtslose Hüne stand. Und das Blut bewegte sich. So wie der Hüne näher kam, glitt auch die Blutlache, die ihn umgab, auf mich zu. Unaufhaltsam. Mein Herz raste wie wild. Das schnelle schwere Klopfen spürte ich bis in den Hals. Die Angst fuhr mir in den Magen und meine Beine waren plötzlich aus Blei. Nicht einen Millimeter konnte ich zurückweichen, während der Hüne immer näher kam. Ich spürte schon den heißen stinkenden Atem dieses Ungetüms auf meinem Gesicht. Mit seiner riesigen Pranke, die den eisernen Gegenstand fest umklammert hielt, holte der Riese aus und – … mein Frauchen klappte die Kühlschranktür zu.
Puh …! War das ein blöder Traum. Manchmal bin ich ja sauer, wenn Sarina mich wach macht, weil sie nachts zum Kühlschrank schleicht. Aber heute war ich ihr echt dankbar. Ich hätte gar nicht wissen wollen, was in dem Traum noch weiter passieren sollte.
Ob es stimmt, dass man manchmal träumt, was passiert ist oder noch passieren wird? Hat dieser Hüne meinen Alfred ermordet? Wollte der auch mir ans Fell?

 

 

3. Kapitel

 

Am nächsten Morgen war der Albtraum verflogen. Vielleicht hatte mir nur mein Stolz ein Schnippchen geschlagen. Sitzen gelassen zu werden tut weh. Erst recht, wenn man frisch verliebt ist. Aber ich musste wohl der Tatsache ins Auge sehen, dass Alfred ein Streuner war, frei wie der Wind. Vielleicht war er auf seinen geheimen Pfaden einer anderen Schönen begegnet, die ihm den Verstand raubte und mit ihrem betörenden Duft die Erinnerung an unsere Nacht verblassen ließ? Also, am besten gar nicht mehr an Alfred denken. Oder hatte der Traum doch mehr zu bedeuten? Sollte ich mir vielleicht Sorgen um Alfred machen? Darüber wollte ich später nachdenken. Schließlich hatte ich einen Auftrag. Seppel finden. Bei der Gelegenheit konnte ich ja auch ganz unauffällig nach Alfred Ausschau halten.
Obwohl der Morgen mit einem faden Nachgeschmack enttäuschter Liebe begonnen hatte, zauberte mein Frauchen mit ein paar Streicheleinheiten und einem tollen Frühstück einen kleinen Sonnenstrahl in mein Gemüt. Sie hatte heute Katzenmilch für mich. Meistens gab es nur Wasser, was ja auch okay ist. Dazu noch „Bashe“, mein Lieblingsfresschen und ein Stückchen von der Wurst, die so herrlich von Frauchens Brötchen zu mir herüber duftete. Als ich alles bis auf den letzten Krümel verschlungen hatte und Bart und Pfoten geputzt waren, machte ich mich auf den Weg.

Unser Viertel lag am östlichen Stadtrand. Es bestand aus einer Vielzahl kleiner Einfamilienhäuschen, die ein weitläufiges Gebiet aus unterschiedlich großen Gärten, Höfen und Terrassen umschlossen. Einige dieser Gärten waren ziemlich öde. Kurz geschorener englischer Rasen, der bis auf spärlich vorkommende sogenannte Solitär­pflanzen keinerlei Versteckmöglichkeit bot. Andere Gärten wirkten dagegen verwildert, gefielen mir aber viel besser. Schon früh im Jahr fand man dort hübsche Blumenwiesen. Die vielen Obstbäume und der herrlich gelb blühende Löwenzahn, der süßen Honigduft verströmte, schienen wie durch Zauberei die Welt zum Leben zu erwecken. Überall summte und brummte es. War der Löwenzahn verblüht, schickte der Wind die kleinen Schirmchen auf die Reise. Dann war die Zeit der Margeriten gekommen, die in Einklang mit Rittersporn, Klatschmohn und Kornblumen den großen Bauernhortensien Gesellschaft leisteten. In manchen Gärten wurde auch Gemüse angebaut. Diese Gärten lockten die meisten Katzen an, da sich die lockere Erde der Beete hervorragend als Katzentoilette eignete. Dann gab es in unserem Viertel noch diverse kleine und große Gartenlauben, Geräteschuppen und lauschige Sitzecken. Manche haben auch kleine Tümpel angelegt und zum Zeitvertreib für uns ein paar Leckerlis reingesetzt. Ich glaube, sie nennen dieses Futter „Goldfische“. Sind bestimmt teuer, aber für uns ist das Beste ja grade gut genug. Meistens können sie es auch gar nicht erwarten, bis wir die Tümpel ganz leergefischt haben, und rücken gleich mit Nachschub an. Sehr nett, diese Langbeiner. Okay, es gibt auch welche, die sind nicht so nett. Die halten sich Hunde! Ich kann nicht nachvollziehen, was einen Langbeiner dazu bewegt, sich so einen stinkigen Flohzirkus zuzulegen. Unsere Nachbarn, die in dem Haus an der großen Eiche wohnen, haben auch so einen blöden Kläffer.
Die Sonne hatte es geschafft, die östlichen Häuserdächer zu erklimmen und war grade dabei, die Tautropfen von den Blättern zu küssen, als ich auf meinem Weg durch die Gärten an einem Spinnennetz vorbeikam, das in einem Rosenstrauch hing. Die Besitzerin lauerte in der Mitte des Netzes und bewachte ihre Fliegenfalle, in der winzig kleine Tautröpfchen wie Diamanten glitzerten. Als ich kurz innehielt, um dieses Kunstwerk zu bewundern, diesen Inbegriff von Gleich­mäßigkeit, vernahm ich ganz in der Nähe ein Rascheln. Ich duckte mich hinter dem Rosen­strauch ins hohe Gras. Es war noch unan­genehm feucht und am liebsten hätte ich jetzt meine Pfoten ausgeschüttelt, aber da hörte ich schon wieder dieses Rascheln. Ich hatte meine Ohren grade in Richtung des Geräuschs ge­dreht, um es genauer zu lokalisieren, als erst zwei graue Ohren und dann der grau getigerte Rest einer Katze unter der Hecke auftauchten. Meine wilde Freundin Mia kam mit einer Maus im Maul von einem Jagdausflug zurück und war auf dem Weg zu ihren Kleinen.
»Morgen, Mia. Sieht ja lecker aus, der kleine Happen«, rief ich ihr zu. Überrascht legte Mia die Maus ab und drückte sie mit einer Vorderpfote auf den Boden. Die kleine Maus wirkte wie angenagelt und schaute ängstlich unter der Pfote hervor.
»Oh, Cleo, hab dich gar nicht gesehen. Hast du schon was von Seppel gehört?« Sie sah müde und abgespannt aus und ich traute mich kaum, ihr zu sagen, dass ich erst jetzt anfangen wollte, nach Seppel zu suchen. Ich erzählte ihr, dass ich in der letzten Nacht vergeblich auf Alfred gewartet hatte. Und ich erzählte ihr von dem beunruhigenden Traum. Den ganzen Morgen über geisterte er mir im Kopf herum. Immer wieder dachte ich, dass mein sechster Sinn mich bisher noch nie getäuscht hatte. Eine dunkle Ahnung sagte mir, der Traum hatte vielleicht doch mehr zu bedeuten.
Nachdem wir uns verabschiedet hatten, setzte ich meinen Weg durch die Gärten fort, über Mauern, durch Hecken und Gebüsche, bis ich erneut Geräusche vernahm. Erst ein leises Knacken, dann ein lautes Rülpsen. Das konnte eigentlich nur einer sein. Brummel!
Mit einem Satz sprang ich hinter den Holunderstrauch und duckte mich ins Gras. Im Grün verborgen fühlte ich mich sicher, sogar wenn dieser unterbelichtete Kläffer aus der Nachbarschaft hier auftauchen sollte. Mein Versteck war nämlich nur einen Katzensprung von der hohen Mauer entfernt, die sich hinter mir befand und das angrenzende Grundstück umschloss. Und tatsächlich, wer kam da durch den gegenüber liegenden Garten spaziert? Mein Kumpel Brummel! Von meinem Versteck aus beobachtete ich ihn. Er trödelte den Gartenweg entlang, blieb stehen und sah sich um. Dann ging er weiter. Zwei lautstark tschilpende Spatzen, die sich um ein Stück Brot stritten, fesselten sein Interesse. Er duckte sich, wobei sein dicker Bauch fast den Boden berührte, und schlich sich langsam näher an die Radaubrüder heran. Sein ganzer Körper war angespannt, wie eine Sprungfeder, sein Schwanz zuckte und seine Kinnlade zitterte vor Aufregung. Er bewegte sich vollkommen lautlos, jede kleine Deckung ausnutzend, auf die Spatzen zu. Als er nah genug war und schon zum Sprung ansetzte, flatterte der eine mit dem Brot im Schnabel auf und war geschwind im nächsten Baum verschwunden. Der andere flog ihm nach und wollte sich noch nicht geschlagen geben. Brummel schaute den beiden enttäuscht hinterher. Noch eine ganze Weile hörte man die Spatzen lamentieren und in dem Baum herumflattern. Unschlüssig stand Brummel da und sah hinauf. Dann ging er weiter, ließ den Baum hinter sich und steuerte dem Gartenzaun entgegen, der Stelle, wo die zwei Zaunlatten fehlten. Das Loch im Zaun war so groß, dass sogar Brummels dicker Bauch hindurchpasste. Jetzt war es nicht mehr weit bis zu dem Holunder, hinter dem ich mich verbarg. Blinzelnd betrachtete ich ihn und musste mir eingestehen, dass sein Äußeres schon beeindruckend war. Er war sehr groß und hatte ein rot getigertes, prachtvoll dichtes Fell. Bei jedem Schritt, den er machte, schwang sein kugelrunder Bauch hin und her. Der Blick seiner bernsteinfarbenen Augen strahlte eine Gelassenheit aus, als ob ihn nichts auf dieser Welt aus der Fassung bringen könnte. Eine wahrhaft stattliche Erscheinung. Aber so stattlich er ist, so blöd ist er auch. Versteht das jetzt mal nicht falsch, ich mag diesen trotteligen Kater. Er ist ein netter Kater. Aber eben leider blöd. Der bildet sich doch ein, seine Leute könnten ihn verstehen, die Langbeiner! Als ob die jemals was verstehen würden. Okay, manchmal scheint es so. Man mauzt und sie stellen was zum Futtern hin. Aber nur weil wir die Langbeiner verstehen, heißt das noch lange nicht, dass die auch uns verstehen. Brummel ist davon überzeugt, dass sie uns verstehen. Deshalb redet er seit Jahren Tag für Tag auf sie ein. So hat er bei uns auch seinen Namen bekommen: Brummel.
»Na, alter Mäusejäger …«, rief ich ihm aus meinem Versteck entgegen. Wie ange­wurzelt blieb er stehen und sah sich um. Sein Schwanz zuckte nervös. Mit einem Satz sprang ich hinter dem Holunderbusch hervor und schlenderte ihm freudig mit hoch erhobenem Schwanz entgegen.
»Cleo!«, sagte er erfreut und stupste zur Begrüßung mit seiner Nase gegen meine.
»Gut, dass ich dich treffe, ich muss dir unbedingt was erzählen«, sagte er, während er meine Flanke beschnüffelte.
»Komm mit in mein Versteck, da lässt sich‘s besser plaudern«, meinte ich, stolzierte in Richtung Holunder vor ihm her und war mit einem eleganten Sprung wieder im hohen Gras verschwunden. Brummel folgte mir, nur sah bei dem dicken Kater der Sprung eher wie ein Hopser aus, egal. Hauptsache, wir waren in Sicherheit, hatten alles im Blick und konnten mal wieder so richtig schön schwatzen. Ich reckte mich, leckte mir ein Stäubchen von meiner linken Pfote und schmiegte mich ins Gras. Erwartungsvoll sah ich Brummel an. Er sah besorgt aus.
»Du kennst doch die Katzentante«, fing er an, »die in dem kleinen Häuschen am Ende der Straße wohnt, das mit dem schönen Garten direkt am Waldrand.«
»Ja, kenne ich.« Und tatsächlich kannte ich sie seit jenem Tag vor etwa drei Jahren, als ich zum ersten Mal durch diese Gegend hier gestromert war, etwa zu der Zeit, als die Blödmänner noch hinter mir her waren.
Der Tag war fast so schön wie heute, als mir eine ältere Dame, so um die sechzig, entgegenkam. Klein und füllig wie sie war, erinnerte sie mich an einen kleinen Vogel, der mit aufgeplustertem Gefieder auf seinem Nest hockt, rundlich, aber doch irgendwie zart und zerbrechlich. Sie war so winzig, dass die Einkaufstasche, die sie in der einen Hand trug, fast auf dem Boden schleifte. In der anderen Hand hielt sie ihre schwarze Handtasche, die mit der großen goldenen Schnalle. Sie trippelte die Straße entlang, die von der Einkaufspassage zum Park führte. Irgendetwas in ihrer Tasche verströmte einen verlockenden Duft. Als sie mich sah, begann sie, mir mit säuselnder Stimme etwas zu erzählen. Ich erinnere mich nicht mehr, was sie mir erzählt hat, aber ich weiß, dass ich sofort spürte, wie sehr sie Katzen mochte. Ich schlenderte neben ihr her, bis wir im Park angekommen waren. Dort setzte sie sich auf eine Bank, ich strich um ihre Beine und sie streichelte mich auf diese ganz besondere Art. Als sie mir dann noch ein Leckerchen aus ihrer Einkaufstasche verehrt hat, war sie bei mir in den Kreis meiner Freunde aufgestiegen. Das waren meine ersten Erinnerungen an die Katzentante. Seitdem besuchte ich sie regelmäßig, wie viele andere Katzen auch. „Katzentante“ heißt sie übrigens nicht nur bei uns Katzen. Auch ihre Nachbarn, die Langbeiner, nennen sie so, weil sie sich um die vielen Streuner kümmert, die es in unserem Viertel gibt. Richtig heißt sie Eleonore Sander, aber viele rufen sie auch mit ihrem Spitznamen Lore. Sie ist eine liebenswerte, gutmütige Frau. Für jeden hat sie ein gutes Wort und sie hilft, wo sie kann, ohne dass man sie darum bitten muss. Sie hat ein mitleidiges Herz. Viele verletzte Tiere hat sie schon gesund gepflegt. Und auch wenn diese Tiere auf unserer Speisekarte stehen, wie neulich diese flügellahme Krähe, tun wir ihnen nichts, weil wir die Katzentante nicht traurig machen wollen. Ich glaube, sie ist sehr einsam. Ihre Ehe ist kinderlos geblieben. Aber sie liebt Kinder. Sie geht oft zum Spielplatz und verteilt frischgebackene Plätzchen, Kuchen oder Bonbons. Sie setzt sich dann auf eine Bank und schaut den Kindern beim Spielen zu. Jeder in unserer Nachbarschaft mag diese kleine alte Dame.
Ganz anders ist das bei ihrem Ehemann. Anton Sander ist ein unangenehmer Zeitgenosse, rechthaberisch, cholerisch und geizig wie hundert Schotten. Er sieht aus wie die bösartige Ausgabe von Louis de Funès; ein kleiner dicker Mann mit Beinen, die so krumm sind, dass ich glatt zwischen seinen Knien hindurch­springen könnte. Das spärliche silbergraue Haar trägt er streng zurückgekämmt, was sein barsches Gesicht mit der unübersehbaren Hakennase besonders zur Geltung bringt. Unter buschigen Augenbrauen lugen kleine schwarze Augen hervor, in denen sich keine Gefühle zu spiegeln scheinen. Zumindest habe ich nie etwas Ähnliches wie Mitgefühl oder Anteilnahme darin gesehen. Er hat kalte, ausdruckslose Augen und eine laute befehlsgewohnte Stimme. Solchen Typen geht man besser aus dem Weg. Aber die einsame Katzentante mit ihren verführerischen Milch­schüsselchen ist in Katzenkreisen eine ange­sagte Adresse. Und zum Glück ist der Alte so gut wie nie zu Hause. Jeden Morgen steigt er in eine dieser stinkenden lauten Blechbüchsen, braust damit die Straße runter in Richtung Stadtmitte und kommt erst abends wieder, oft sogar erst, wenn es schon dunkel ist. Nur an den Wochenenden ist er zu Hause. Dann hört man sie oft streiten. Die Katzentante sieht dann sehr unglücklich aus. Und manchmal hat sie am nächsten Tag eine große Sonnenbrille auf, sogar wenn es regnet. Am Anfang dachte ich, sie macht das, weil sie traurig ist, damit man die verheulten Augen nicht sieht. Aber einmal hat sie die Brille abgenommen, als sie mich gestreichelt hat. Da hab ich es gesehen. Ihre linke Augenbraue war aufgeplatzt und sah blutverkrustet aus und unter dem geschwollenen Auge war ein Bluterguss, von solcher Farbvielfalt wie die Wildblumenwiese auf der Lichtung im nahen Wald. Als sie mich dann gestreichelt hat, lächelten ihre Augen und es fühlte sich an, als würde ihre ganze Liebe durch ihre Hände in mein Fell fließen. Das war unglaublich gut. Bei ihr spürt man einfach bei jeder Berührung, wie sehr sie uns Katzen mag. Und weil sie uns so mag, trägt die Katzentante jeden Morgen und jeden Abend zwei Schüsseln mit Milch und Futter die steile Verandatreppe hinunter. Sie stellt sie für uns auf die Terrasse, gleich dort, wo der lange Gartenweg beginnt.
»Was ist denn mit der Katzentante?«, fragte ich neugierig.
»Und kennst du den fiesen Langbeiner, der auch dort wohnt?«
»Du meinst den alten Sander? Ja, wieso? Was ist denn los?«
»Stell dir vor, was ich gesehen habe: Ich saß gemütlich auf dem Mauersims seitlich vom Haus, wo man die Verandatreppe einsehen kann. Ich hab da auf die Katzentante gewartet, wollte der Erste an den Schüsseln sein.« Brummel streichelte mit der Pfote seinen dicken Bauch.
»Du weißt ja, ich hab immer Hunger. Also, wie ich da so sitze und vor mich hin döse, da wird es neben mir plötzlich laut. Ein Fenster vom Haus stand offen, das hatte ich vorher gar nicht bemerkt. Ich, neugierig geworden, springe in den alten Kirschbaum, der genau vorm Fenster steht. Von da konnte ich alles gut sehen. In dem Haus war der Fiesling am Ausflippen. Er sagte so was wie: ‚Du weißt genau, wie viel das alles kostet. Aber dich interessieren ja nur diese Scheißviecher da draußen. Wenn ich noch einmal sehe, dass du denen Futter hinstellst, dann sollst du mich kennenlernen.‘ Mit erhobener Faust hat er seiner Frau gedroht. Die ganze Zeit, während er so brüllte, packte die Katzentante wortlos eine Tasche. Als er fertig war mit Brüllen, hat er ihr die Tasche aus der Hand gerissen, ist nach draußen gestürmt und hat so laut die Tür geknallt, dass ich fast vom Baum gefallen wäre. Als er weg war, hat die Katzentante in die Tasche ihrer Schürze gefasst, hat ein weißes Tuch rausgeholt und dann hat sie sich damit Tränen weg gewischt. Ich hab‘s genau gesehen. Aber verstehen kann ich es nicht. Soll sie doch froh sein, wenn dieser furchtbare Kerl weg ist.«
»Ach Brummel«, antwortete ich nachdenklich, »ich glaube, sie hat wegen uns geweint, weil sie uns kein Futter mehr rausstellen darf. Außer uns hat sie doch niemanden.«
Wir schwiegen eine Weile. Von fern hörten wir ein gleichmäßig andauerndes Brummen und der Duft frisch gemähten Grases wehte zu uns herüber.
»Sag mal, Brummel, hast du Alfred gesehen?«, fragte ich mit gespielter Gleichgültigkeit.
»Ja, vorhin erst, warum?«
»Ach, nur so«, sagte ich so beiläufig wie möglich. Brummel grinste.
»Komm schon, Cleo, mir kannst du‘s doch sagen. Du bist verliebt, stimmt‘s?«
Verlegen sah ich auf meine Pfoten hinunter. Zum Glück hatte ich Fell, sonst könnte Brummel sehen, wie rot ich angelaufen war.
»Ich hab ihn am Waldrand gesehen, am Ortsausgang, gleich neben der Straße. Er hat da unter einer Tanne ein Nickerchen gemacht. Muss ja gestern eine anstrengende Nacht gewesen sein.« Er grinste wissend und zwinkerte mir zu.
»Mit mir hat er die anstrengende Nacht jedenfalls nicht verbracht, falls du das meinst.« Die Enttäuschung in meiner Stimme konnte ich nicht verbergen.
»Hast du vielleicht auch Seppel gesehen?«
»Wen suchst du denn noch alles?« Er sah mich neugierig an. Als er merkte, dass er darauf keine Antwort bekommen würde, sagte er: »Nö, schon seit zwei Tagen nicht. Hab mich auch schon gewundert. Er liefert ja alle Mäuse, die er fängt, bei seiner Flamme ab und morgens haben wir uns dann regelmäßig an den Futterschüsseln bei der Katzentante getroffen. Aber in den letzten Tagen war er nicht da. Hab ihn auch nirgendwo anders gesehen. Wieso willst du das wissen?«
»Mia sucht ihn, die ‚Flamme‘, der er immer die Mäuse gebracht hat. Sie macht sich Sorgen um Seppel und ich habe versprochen, nach ihm Ausschau zu halten. Darum muss ich jetzt auch weiter. Du hast mir sehr geholfen, Brummel. Man sieht sich!«
Bevor er noch etwas erwidern konnte, setzte ich mich in Bewegung und zwinkerte ihm noch einmal zu, ehe ich auf die Mauer sprang und in Richtung Wald verschwand.

 

 

4. Kapitel

 

Ich überlegte, wie ich Alfred entgegentreten sollte. Ihm eine Szene machen wie ein eifersüchtiger Langbeiner? Nein, auch wenn ich Frauen, die so reagierten, jetzt verstehen konnte. Ich war traurig und wütend zugleich, enttäuscht und beleidigt. Nein, ich musste mir treu bleiben. Stolz und unnahbar wollte ich ihm die kalte Schulter zeigen, ihn am ausgestreckten Arm verhungern lassen. So schnell würde ich mich nicht mehr zum Stelldichein mit ihm verabreden. Inzwischen hatte ich den Wald­rand erreicht. Ich hielt nach der Tanne Aus­schau. Und tatsächlich. Schon von Weitem  sah ich seine weißen Fellabzeichen leuchten. Als ich auf ihn zuging, suchte ich weiter nach Worten. Aber dann beschloss ich, erst mal abzuwarten, was Alfred zu sagen hatte. Immerhin hatte er mich versetzt und da war mindestens eine Entschuldigung fällig. Ich wunderte mich, dass er nicht aufsah, als ich mich näherte. Irgendwas stimmte hier nicht. Unbehagen kroch mich an, wie der Frost im Winter, der sich von den Pfotenballen aus über den ganzen Körper bis zu den Ohrenspitzen ausbreitet. Unwillkürlich fuhr ich die Krallen aus, legte die Ohren an und sah mich um. Niemand war da. Ich strengte alle Sinne an, doch nicht der kleinste Mauseschwanz war zu sehen. Und diese Stille. Unheimlich. Sogar die Vögel schwiegen. Und auch der Wind trug nur vertraute Gerüche zu mir herüber. Ich war mutterseelenallein. Und doch stimmte hier irgendetwas ganz und gar nicht. Vorsichtig schlich ich weiter und mit jedem Schritt, den ich näher kam, nahm das Grauen Gestalt an. Alfred rührte sich nicht! Dann sah ich die Fliegen. Konnte das normal sein? An vielen warmen Sommerabenden sah ich schon die kleinen Schwebfliegen unter den Bäumen in der Sonne tanzen. Doch nun kreisten fette Brummer wie ein Bomber­geschwader unter der Tanne. Stürzten sich auf meinen Alfred. Gierig auf … was war das? Blut? Nein, das konnte nicht sein. Ich ging noch näher heran, bis Alfred direkt vor meinen Pfoten lag, lang hingestreckt unter der Tanne zwischen den Busch­wind­rös­chen. Mein Alfred – tot! Ich wollte schreien, konnte aber nicht. Der Anblick zog mir die Kehle zu. Keine Ahnung, wie lange ich dort stand. Ich konnte nicht glauben, was ich sah.
»Alfred«, sagte ich leise, in der Hoffnung, dass er antworten würde. Doch Alfred antwortete nicht. Und er würde nie wieder antworten. Ich taumelte zurück, dann rannte ich. Nach Hause! Unters Sofa! Dahin, wo mich keiner finden würde. Dahin, wo mein Frauchen mich beschützte. Ich rannte um mein Leben, durch Gärten, über Mauern, ich schlüpfte durch Zäune und Hecken und raste weiter an Schuppen und Garagen vorbei, bis ich unser Grundstück erreichte. Mit einem riesigen Satz war ich im Klofenster, peste durch Bad und Korridor bis ins Wohnzimmer, als wäre ein Pitbull hinter mir her. Ich verkroch mich unter die Couch und lauschte. Ich hörte mein Herz wie wild schlagen und das Blut rauschte in meinen Ohren. Mir war speiübel, aber ich war auch erleichtert. Ich war in Sicherheit und niemand war mir gefolgt. In meinen Gedanken sah ich Alfred. Albtraum und Wirklichkeit vermischten sich. Wenn ich die Augen schloss, sah ich, wie mein toter Alfred mir zuwinkte und mir Zeichen gab, während Blut von den Zweigen der Tanne tropfte und der Schatten der Tanne die Umrisse des gesichtslosen Hünen annahm. Ich hatte Angst. Eine Scheißangst. Tausend Gedanken schossen mir durch den Kopf. Ich durfte jetzt nicht die Nerven verlieren. Und die Trauer um meinen Alfred durfte mich nicht übermannen. Nicht jetzt! Ich begriff, es hatte keinen Sinn, wegzulaufen. Was würde Miss Marple tun, wenn sie eine Leiche fand? Kühlen Kopf bewahren und den Fall aufklären. Und genau das musste ich jetzt tun. Ich musste zur Tanne zurück, zu Alfred, und herausfinden, was passiert war. Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen und machte mich mit einem flauen Gefühl im Magen auf wackeligen Beinen wieder auf den Weg in Richtung Waldrand.
Dort angekommen nahm ich jedes Detail in mich auf. Alfred musste schon die ganze Nacht hier gelegen haben, denn sein Fell war noch feucht vom Tau. Er lag mit dem Rücken zu mir. Zögernd ging ich um ihn herum. Seine schönen goldenen Augen blickten starr in den Wald, der dunkel und feindlich vor mir lag. Was war hier passiert? Blut war aus Alfreds Maul gelaufen. Es musste viel Blut gewesen sein, denn an­ge­trocknete Tropfen hingen noch in seinen Bart­haaren. Auch in seinen Ohren war ge­ronne­nes Blut. Eine Kopfwunde klaffte so scheußlich weit auf, dass man den Schädelknochen durch­schimmern sah. Konnte diese Verletzung von einem Unfall herrühren? Es sah eher danach aus, als wäre er erschlagen worden.
Aber eine Sache machte mich ganz besonders stutzig: Nirgendwo auf dem Boden war Blut! Es hatte in der Nacht nicht geregnet und der Tau hätte niemals ausgereicht, um das Blut vollkommen wegzuwaschen. Jemand musste meinen toten Alfred hierher gebracht haben. Nur drei Meter von der Straße entfernt, sollte man es wohl für einen Unfall halten. Mein Fell sträubte sich bei dem Gedanken, dass Alfred ermordet wurde.

 

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